Hallo Herr Pastor Hans-Jürgen Jung,

 

Erstmal herzlich Willkommen hier im Interview von Zwischen Männlich. Schön, dass Sie Zeit für mich bzw. uns gefunden haben und mit mir dieses Interview führen.
Herr Jung, vielleicht stellen Sie sich uns mal kurz vor.

 

Ich bin 56 Jahre alt und seit 27 Jahren Pastor in der Bremischen Evangelischen Kirche (BEK). Nach 20 Jahren Arbeit als Gemeindepastor in Bremen-Findorff leite ich seit 2014 Kapitel 8, das Evangelische Informationszentrum in der Innenstadt an der Domsheide 8. Dort informiere ich zusammen mit einem Team von Freiwilligen die Besucher*innen und bin für Seelsorge, Kircheneintritt und Stadtkirchenarbeit zuständig. Stadtkirchenarbeit heißt z.B. kleinere und größere öffentliche Veranstaltungen, wie Lesungen, Konzerte, Ausstellungen, Diskussionen und Vorträge zu organisieren.

Wir kennen uns jetzt schon ein wenig länger, allein durch meine ehrenamtliche Arbeit bei Ihnen im Kapitel 8, wie Sie gerade geschrieben haben.
Dabei ist mir aufgefallen, dass diese Arbeit, jetzt menschlich betrachtet, sich durch alle Lebenslagen durchzieht.
Angefangen von Anfragen zu Kindestaufen und Kircheneintritten, aber auch Menschen, denen es nicht so gut geht, kommen zu Ihnen. Wie gehen Sie mit diesen Menschen um, die vielleicht ein Schicksalsschlag erleiden mussten?

 

Ich gehe mit Menschen, die einen Schicksalsschlag erleiden mussten und die dann zu uns kommen zunächst so um, dass ich mir Zeit nehme und zuhöre. Die Betroffenen suchen ein Gegenüber, jemand von „Außen“, der verschwiegen ist, einen wertschätzt und nicht verurteilt oder gar gute Ratschläge gibt, die oft nur Schläge im wörtlichen Sinn sind. Es kommt darauf an, die noch vorhandenen eigenen Kräfte des erkrankten Menschen zu stärken.

Jetzt wissen Sie ja, dass auch ich eine Krankheit die meine nennen darf.
Multiple Sklerose. Ich hatte Ihnen schon das eine und andere darüber erzählt. Wie ist Ihre Erfahrung mit der MS bzw. den Menschen dahinter?

 

Außer Dir und einer Kollegin, die kurzzeitig bei uns gearbeitet hat und ebenfalls an MS erkrankt ist, habe ich vor 30 Jahren als Berufsanfänger in Bremen-Nord in einem Alten- und Pflegeheim (https://www.bremer-heimstiftung.de/pflege/hausgemeinschaft-fuer-ms-betroffene/) als Pastor gearbeitet, in der es eine Station mit MS-Erkrankten gab. Dort habe ich damals die unterschiedlichen Schwere und Verläufe dieser Erkrankung bei den Bewohnerinnen und Bewohnern dieser Station kennengelernt und in Seelsorge-Gesprächen erste Erfahrungen gesammelt.

 

Meine Erfahrungen ist, dass es wichtig ist, den Fragen und Anfragen einen Raum und Gehör zu geben. Fragen, die in den unterschiedlichen Phasen der Erkrankung sich verändern können. Zu Beginn, wenn es vielleicht eine noch eine unklare Diagnose gibt, sieht das anders aus, als nach dem ersten Schub, den ersten Schüben. Da bricht oft dann ein ganzer Lebensplan, ein Konzept zusammen, gerät alles in Wanken. Da müssen die Betroffenen Ihre neue Situation für sich selbst akzeptieren, haben die Aufgabe es anderen zu erzählen und sollen dann zugleich mit deren Reaktionen auf die MS-Erkrankung umgehen. Zukunftspläne, Beziehung, Familie, Beruf in all diesen Feldern stellt sich die Frage, wie geht es weiter? Was macht mich aus? Definiere ich mich (nur) über meine Erkrankung? Welche Stärken habe ich (noch)? Wo muss ich an mir arbeiten und – vor allem! – wo kann ich gnädiger mit mir selbst sein! Und bei gnädig bzw. streng bin ich direkt bei einer theologischen Frage. Mein Eindruck ist, dass das „ich“ oder „selbst“ vor dem ich mich verantworten muss, den göttlichen, himmlischen strengen Richter z.B. des Mittelalters abgelöst hat.

Kennen Sie Angehörige, wo in der Familie eine schwere Krankheit besteht? Und wie gehen diese mit der Situation um?

 

Aus der eigenen Familie aber auch aus dem Berufsalltag kenne ich ein weites Spektrum, zwischen hilfreicher, naher Pflege im Familienkreis bis hin zur Delegation an „Spezialisten“ z.B. in Pflegeheimen oder mit entsprechender Betreuung.

Wie kann die Evangelische Kirche diesen Menschen helfen?

 

Sie tut es auf der individuellen Ebene z.B. durch Seelsorge am Kranken, bzw. den Angehörigen. Dann auf der organisatorischen Ebene durch diakonische Einrichtungen – z.B. Krankenhäuser, Pflegeheime, Sozialdienste, Beratungsstellen. Und zuletzt auf politischer Ebene, indem z.B. die Diakonie – wie die alttestamentlichen Propheten oder wie Jesus – ihre Stimme für die Schwachen erhebt und Rechte fordert, weil auch Kranke Ebenbilder Gottes sind.

Als ich zu Ihnen kam, um die Geschichte von Frau Samira Mousa zu erzählen, Sie ist auch an MS erkrankt, habe ich Ihnen gesagt, dass die Frau Mousa Lesungen veranstaltet, um Ihr neues Buch vorzustellen.

 

Jetzt haben wir eine Lesung in der Stadt Bremen organisiert wo Sie einer von zwei Veranstalter sind.
Dafür möchte ich mich an dieser Stelle nochmal bedanken! Danke…
Wenn ich Sie fragen darf, möchten Sie uns dazu ein zwei Sätze erzählen…

 

Der Abend steht ja zurzeit noch nicht 100prozentig fest, da keiner von uns weiß, wie die Corona-Pandemie dann unser Leben noch bestimmen wird. Vielleicht wird der Termin auch später nachgeholt, denn es wichtig, dass Samira ihren Umgang mit ihrer MS-Erkrankung auch hier in Bremen erzählt. Bei ihr wird mir deutlich, dass ein Mensch immer mehr ist, als seine/ihre Erkrankung. „Und morgen die Welt“ heißt ihr Buch, „chronisch fabelhaft“ ihr Blog, das ist für mich eine nachahmenswerte Lebenseinstellung. Deshalb lohnt es sich, Samira live zu erleben und diese Erfahrung möchte ich Euch nicht vorenthalten.

Ich denke, wenn dieser Abend am 11. Mai stattfinden wird, so wird es eine schöne Erfahrung werden. Da gebe ich Ihnen recht. Haben Sie generell noch einen Tipp für uns, wie wir mit unklaren Situationen umgehen können…

 

Als Pastor, aber auch als Mensch habe ich zunächst die Erfahrung gemacht, dass es gut ist, nicht in Aktionismus zu verfallen. Eher ist es gut, innezuhalten, seine Gefühle ernst zu nehmen. Unsicherheit und Angst gehören dazu, aber neben Schockstarre gibt es ja auch noch die Optionen „Flüchten“ oder „Standhalten“. Außerdem hilft beim Sortieren dessen, was als nächstes zu tun ist, oft ein Perspektivenwechsel: Bin ich gerade wie ein Frosch im Geschehen, dann hilft die Vogelperspektive, d.h. ich schaue mich und meine Situation einmal von oben – wie ein externer Beobachter – an. Auch das Gebet ist so ein wirksamer Perspektivenwechsel, indem ich im Gespräch mit Gott, vielleicht lerne, meine Situation, meine Krise, meine Erkrankung mit neuen („Gottes“) Augen zu sehen. Das ist das eigentliche Wunder. Die Wirksamkeit des Gebetes liegt also nicht darin begründet, ob es außerhalb von mir eine objektive Realität gibt -Gott - , sondern darin, dass es mir im Gebet als (Selbst?-)Gespräch gelingt, mit mir in einen inneren Dialog zu treten, der mich verändern kann.

 Herr Jung ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit für dieses Interview genommen haben.

 

Das ganze Interview gibt es auch als PDF zum Downloaden...

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Interview - Pastor Hans-Jürgen Jung - Zw
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